Debatte zum Ausstieg aus den pandemischen Einschränkungen im Landtag

Heute fand im Landtag eine Unterrichtung durch die Landesregierung zum Thema „Unser Land erfolgreich aus der Pandemie führen und neue Perspektiven eröffnen“ statt. Auch unser Fraktionsvorsitzender, Thomas Kutschaty, hat in seiner Rede seine Vision für eine Zeit nach Corona verdeutlicht.

 

Rede von Thomas Kutschaty vom 16.06.2021:

„Sehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren,

„Eine Lüge“, so schrieb einst Mark Twain, „ist drei Mal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe zugebunden hat.“

Das Gleiche gilt für Legenden, Mythen und Verschwörungstheorien. Es ist wohl unvermeidlich, dass um die schlimmste Pandemie seit 100 Jahren in Teilen der Bevölkerung schon Legenden gesponnen werden, obwohl sie noch gar nicht zu Ende ist.

Die populärste Form der Legendenbildung ist die nachträgliche Verharmlosung:

  • Das Virus war gar nicht so gefährlich.
  • Es wäre von selbst verschwunden.
  • Die Lockdowns waren überflüssig.
  • Die Regierung hat dramatisiert und manipuliert.

 

Wir alle kennen diese Behauptungen. Und noch viel schlimmer: Die Protestbewegungen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen radikalisieren sich und werden zunehmend demokratiefeindlicher. „Problematisch ist, dass die Versuche, das Vertrauen in die demokratische Ordnung zu erschüttern, zunehmend auch Sympathie im nicht-extremistischen Protestspektrum findet“, so die Einschätzung des NRW-Verfassungsschutzes.

Die Folgen haben wir am Wochenende leider wieder sehen müssen:

Es gab erneut Angriffe auf Polizisten, Ordnungskräfte und Gerichtsvollzieher.
Dem stellen wir uns entschieden entgegen. Wir stehen an der Seite derjenigen, die für unsere Sicherheit sorgen.

Und deswegen muss eines ganz deutlich gesagt werden:
Ganz egal, wie schnell diese Verharmlosungen um die Erde laufen, sie bleiben was sie sind und schon immer waren: Legenden und Lügen.

Denn wenn sie geglaubt werden, dann werden in der nächsten Krise Menschen an solchen Lügen sterben.
Zu viele Menschen sind schon an solchen Lügen gestorben:
In den USA.
In Brasilien.
In Indien.

Lügen und Legenden töten Menschen.
Aufklärung und Wissenschaft retten Menschen.
Daran kann es keinen Zweifel mehr geben.

 

Nichts ist mehr wie es war

Trotz deutlich gesunkener Infektionszahlen:
Die Vorstellung, jetzt solle und könne alles wieder so werden, wie es vor der Pandemie war, ist fahrlässig und entmutigend.
Sie ist fahrlässig, weil sie sehr akute Gefahren und Probleme ignoriert.
Sie ist entmutigend, weil wir dann aus der Pandemie überhaupt nichts gelernt hätten.

 

Anerkennung von Leistungen

Denn den Kampf gegen das Corona-Virus haben wir noch nicht gewonnen.
Aber wir werden ihn gewinnen, wenn wir jetzt nicht leichtsinnig werden.
Da bin ich mir sicher.
Noch ist die Pandemie nicht vorbei.
Aber die Aussichten sind gut.

Deshalb erlaube ich mir ein vorläufiges Fazit:
In Deutschland haben sich – gemessen an der Gesamtbevölkerung – nur halb so viele Menschen mit dem Virus infiziert wie in Frankreich, Italien oder Großbritannien.
Allem Leid zum Trotz: Das ist das ein Erfolg. Ein großer Erfolg!

Und bei allem, was diese Landesregierung in den vergangen 16 Monaten versäumt und falsch gemacht hat, so hat sie auch ihren Anteil an diesem Erfolg.
Das verdient Anerkennung.
Und das erkennen wir auch an.

Wir wissen, was viele Menschen auch in unseren Behörden und Verwaltungen
geleistet haben.
Im Namen der SPD-Fraktion sage ich: Danke!
Das bleibt unvergessen.

 

Vernunft und Solidarität

Andere Länder wurden viel härter getroffen als Deutschland. Die Vereinigten Staaten haben nicht verhindern können, dass genauso viele ihrer Landsleute an Covid-19 sterben mussten wie vor 100 Jahren an der Spanischen Grippe.
Nämlich 600.000. 100 Jahre medizinscher Fortschritt haben daran nichts ändern können.

Im Deutschen Reich fielen der Spanischen Grippe mehr als 300.000 Menschen zum Opfer.

Ohne die harten Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen hätten auch wir diese Schreckenszahl wieder erreicht.
Ohne die Vernunft und die Solidarität unserer Bürgerinnen und Bürger wären weit mehr Menschen krank geworden und gestorben.
Stattdessen wurden viele Menschenleben gerettet. Ich hoffe von Herzen, dass das eine Erfahrung ist, die in unser gemeinsames, in unser nationales Gedächtnis eingeht:
Vernunft und Solidarität machen uns stark.
Vernunft und Solidarität einen uns.
Die Herausforderungen der Zukunft mögen groß sein.
Gemeinsam können wir sie meistern.
Das haben wir bewiesen!

Wir haben noch etwas anderes bewiesen:
Eine Gesundheitskrise ist keine Demokratiekrise.
Wir hatten Politik für den Notstand zu machen.
Aber einer Politik des Ausnahmezustands haben wir widerstanden. Alle großen NRW-Gesetze zur Bewältigung der Pandemie – von Rettungsschirm bis
zum Pandemiegesetz – sind vom Landtag maßgeblich geprägt und verabschiedetet worden. Das war deshalb möglich, weil alle demokratischen Parteien zusammengearbeitet haben. Die Pandemie war eine Bewährungsprobe für die parlamentarische Demokratie.
Wir haben sie bestanden. Auch dafür sage ich den anderen demokratischen Fraktionen:
Herzlichen Dank.

 

Parlamentarische Kontrolle

Aber zu einer parlamentarischen Demokratie gehört zweifelsohne die Kontrolle der Regierung durch das Parlament. Und wenn die Opposition Fragen stellt und
die Aufklärung von Sachverhalten einfordert, dann ist das nicht schäbig oder unanständig.
Das ist unsere Aufgabe!
Das steht so in unserer Verfassung. Und deswegen sollten Sie damit anfangen, bei der Aufklärung mitzuwirken.
Das ist nämlich Ihre Aufgabe!
Aber Sie haben nicht das Recht, moralische Haltungsnoten zu verteilen. Das muss auch einmal gesagt werden!

 

Bildung

Meine Damen und Herren,
wir haben allen Grund zur Zuversicht. Und trotzdem haben wir noch sehr viel zu tun!
Das gilt aber auch ganz besonders für die Bildungs- und Familienpolitik.
Die Zeit gefährlicher Infektionen ist hoffentlich bald vorbei. Die Schulen sind wieder im Regelbetrieb. Zum Glück!
Aber die Schäden, die Corona unter unseren Kindern angerichtet hat, sind noch längst nicht behoben und geheilt.

Ich spreche von gesundheitlichen Schäden, von Entwicklungsstörungen, von Bildungslücken, die Auswirkungen auf das gesamte Berufsleben haben können.
Es wird Zeit, dass wir gegensteuern – und zwar mit allem, was wir aufbieten können:
an Geld, an Zeit, an Personal.
„Normal“ wird an unseren Schulen auf absehbare Zeit nur wenig sein. Wir brauchen jetzt nicht weniger als einen nationalen Kraftakt. Einen nationalen Kraftakt für Kinder und Bildung.
Denn nachdem über Jahre viel zu wenig für die Digitalisierung unserer Schulen passiert ist, haben wir die Corona-Pandemie genutzt, um hier aufzuholen.
Doch diese Erfolge verfliegen schnell, wenn wir jetzt nicht noch einmal richtig nachlegen:
Auch nach Corona braucht jedes Kind einen Computer. Wer keinen Computer hat, ist raus – gerade in der Schule. W-Lan in Schulgebäuden muss Standard sein!
Denn auch der beste Computer nutzt ohne Internetanbindung nicht viel. Die Defizite in der digitalen Bildung müssen viel schneller als bisher behoben werden.
Aber die wichtigste Ressource im Bildungsbereich in unseren Kindertagesstätten und Schulen ist der Mensch.
Jetzt ist es an der Zeit, diesen Menschen die Wertschätzung zu geben, die sie verdienen. Da reden wir über Arbeitsbedingungen, und wir reden über Bezahlung.
Vor allen Dingen schulden wir aber den Erzieherinnen und Erziehern, den Lehrerinnen und Lehrern Respekt und Anerkennung! Denn sonst werden wir bald nicht mehr genügend Menschen finden, die diese wichtige Arbeit machen wollen.

Bei aller Euphorie: Es gibt noch keinen Impfstoff für die unter 12-Jährigen. Und für die über 12-Jährigen gibt es zu wenig Impfstoff.
Unsere Kinder und Jugendlichen werden noch länger mit Corona zu tun haben. Und wir wissen immer noch nicht, wie gefährlich die sogenannte Delta-Variante des Virus ist. Wir wissen nicht, ob das Impftempo so hoch bleibt wie jetzt.
Das Motto der nächsten Monate muss deshalb lauten:
„Auf das Beste hoffen – und mit dem Schlimmsten rechnen!“
In jedem Fall brauchen wir eine Infrastruktur für die dritte Impfung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit notwendig sein wird. Das werden die Hausärzte nicht allein schaffen. Darauf müssen wir vorbereitet sein und deshalb müssen die Impfzentren bis ins nächste Jahr hinein erhalten bleiben.

 

Konsequenzen aus Corona: Gesundheit

Die Erfahrungen aus der Pandemie müssen Konsequenzen haben:
Für die Bildung, für den Arbeitsmarkt und selbstverständlich auch für die Gesundheitsversorgung.
Haben wir denn nicht gelernt, dass der Maßstab für ein gutes Gesundheitssystem nicht Gewinnmaximierung, sondern Versorgungssicherheit ist?
Haber wir etwa nicht gelernt, dass freie Krankenhausbetten keine Überkapazitäten, sondern Sicherheitsreserven sind?
Und haben wir nicht gelernt, dass gute Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur ein Kostenfaktor, sondern zu allererst ein Qualitätsmerkmal sind?
Wir haben das gelernt!

Und wir wollen auch so handeln:
Wir dürfen keine Krankenhäuser auf dem Land schließen.
Wir brauchen auch in den problematischen Stadtteilen Kinderärzte und Orthopädinnen.
Es geht uns nicht darum, den Standard der medizinischen Versorgung zu halten, sondern zu verbessern!

 

Wirtschaft

Und die Corona-Pandemie muss auch ein Wendepunkt für die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sein. Die Kommunen brauchen ein Programm zur Belebung ihrer Innenstädte. Gerade in Klein- und mittelgroßen Städten droht ein massives Ladensterben. Ansätze sind da, aber da geht noch mehr.
Auch die Gastronomie und die Kulturschaffenden sind noch lange nicht in Sicherheit. Die Zeit der Hilfsprogramme darf noch nicht vorbei sein. Für unseren industriellen Mittelstand muss sie jetzt erst beginnen.

Corona hat viel aufgehalten, aber nicht den Klimawandel:
In den nächsten zehn Jahren müssen wir die Treibhausgase so stark senken wie in den 30 Jahren zuvor. Wem die ökologische und digitale Transformation am schnellsten und besten gelingt, wird erst zum Technologie- und dann zum Marktführer, inklusive enormer Gewinne, neuer Arbeitsplätze und neuer  Wertschöpfungsketten.
Aber das wird nur mit massiven Investitionen möglich sein. Aus eigener Kraft werden das viele unserer mittelständischen Unternehmen nicht schaffen können. Das schaffen nicht einmal alle großen DAX-Konzerne. Die beiden Grundprobleme vieler Unternehmen im technologisch-ökologischen Wandel hat der Bundesverband der mittelständischen Wirtschafft ohne Umschweife benannt: Liquiditätsmangel und Mangel an Eigenkapital.

Deshalb fordert der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft wörtlich „die Einrichtung eines staatlichen Eigenkapitalfonds in angemessener Höhe, um die Existenz und die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen zu sichern.“

Genau das haben wir hier beantragt: Wir brauchen einen Stabilitätsfonds für die Arbeit von morgen in Nordrhein-Westfalen mit einem Volumen von 30 Milliarden Euro.

 

Arbeit

Und selbstverständlich wollen wir eine neue Arbeitsmarktpolitik einleiten.
Die Pandemie hat uns einiges gelehrt:
Wir wissen heute, auf wen wir uns in einer Krise verlassen können.
Wir kennen jetzt die echten Leistungsträgerinnen in diesem Land.
Wir wissen jetzt, dass sie unseren Alltag aufrechterhalten, wenn ein Notstand über uns hereinbricht.
Aber wissen auch, dass zu viele von ihnen zu schlecht bezahlt werden.
„Niemand, der 40 Stunden die Woche arbeitet, sollte sich mit einem Lohn unterhalb der Armutsgrenze zufriedengeben müssen. Niemand!“

Das sage nicht nur ich.
Das sind die Worte des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Das sind die Worte von Joe Biden.
Deshalb will er einen Mindestlohn von 15 Dollar die Stunde in seinem Land. Das entspricht ziemlich genau den 12 Euro, den die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie für Deutschland fordern.
Jetzt frage ich mich: Wenn der Präsident der USA, des Stammlandes des modernen Kapitalismus, einen armutssicheren Mindestlohn fordert, warum fordern wir das hier nicht auch gemeinsam im Landtag von Nordrhein-Westfalen? Wir sind das Stammland der christlichen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Aber zwanzig Prozent der Beschäftigten arbeiten im Niedriglohnbereich.

Der US-Präsident sagt, er wolle ein Präsident der Gewerkschaften sein. Und warum will er das?
Weil erst die Gewerkschaften die Mittelklasse geschaffen haben, die noch immer das gesellschaftlichen Rückgrat der USA bilden. In Deutschland ist das nicht anderes. Leistungsgerechtigkeit gibt es nur mit starken Gewerkschaften und verbindlichen Tariflöhnen.
Deswegen brauchen wir starke Gewerkschaften und starke Betriebsräte!

 

Ein besseres Land ist möglich

All das müsste nach Corona auf der Agenda der Regierung stehen. Aber das wird es nicht.
Diese Landesregierung wird weiter an ihrer Entfesselungs- und Trickle-Down-Politik festhalten, die Normalverdienern nichts, aber auch gar nichts bringt. Im Corona-Jahr 2020 ist die Anzahl der Milliardäre in Deutschland um fast 30 Prozent auf 136 gestiegen. Ihre Vermögen sind um sage und schreibe 100 Milliarden Euro gewachsen – das sind drei Prozent unserer Wirtschaftsleistung. Dagegen ist die deutsche Wirtschaftsleistung insgesamt um fünf Prozent geschrumpft.

Die Umverteilung zugunsten der Superreichen während der Pandemie war phänomenal – national wie international. Das können wir nicht länger akzeptieren.
Durch eine gerechte Vermögenssteuer hätte kein Milliardär ein schlechteres Leben.
Aber die Gemeinschaft hätte die Mittel, die sie braucht, um zu investieren: In die Bildung unserer Kinder und in die Arbeit von morgen.

Corona hat gezeigt, dass unsere Gesellschaft solidarisch ist. Wir sind dabei, diese Krise gemeinsam zu meistern. Aber das wird uns nur gelingen, wenn wir auch bereit sind, die Missstände, die uns Corona gezeigt hat, auch gemeinsam anzugehen.
Dann haben wir eine Chance, diese zwanziger Jahre zu Goldenen Zwanzigern zu machen. Und sollte das nicht unser aller Ziel sein?
Ein besseres Land nach Corona ist möglich. Für die Vielen, nicht nur für wenige.
Herzlichen Dank.“